Keuchend, mit Laub unter seinen Füßen kam Bruno Nießer ans Ziel. Zwei Stunden und vierzig Minuten lang war er im frühen Herbst das baumgesäumte Ruhrufer entlanggelaufen, um nun vor den Zuschauern die Arme in die Höhe zu reißen: Erster von 50 Läufern. Das war 1963, beim ersten Marathon rund um den Baldeneysee.
Noch heute machen sich in jedem Herbst viele Menschen auf, an dem Spektakel teilzunehmen, Tausende inzwischen allein als Läufer. Der Essener Marathon unterscheidet sich dabei allerdings von anderen: Auch wenn er in einer Großstadt ausgetragen wird, ist er doch kein wirklicher City-Lauf. Denn die Strecke führt die Läufer nicht durch die Innenstadt, sondern zweimal um den Ruhrstausee herum. Genauer gesagt „Rund um den Baldeneysee“, wie der heutige Titel des Sportereignisses verrät. Auf ihrem Lauf passieren die Sportler Laubwälder genauso wie Denkmäler der Industriekultur, etwa die Papiermühlenschleuse in Werden oder einige Zeit später die Zeche Carl Funke am Nordufer des Sees. Sie lassen das historische Landgut Haus Scheppen links liegen und laufen parallel zur alten Zechenstrecke der Hespertalbahn, die inzwischen als Museumsbahn betrieben wird. Nachdem sie eine ehemalige Eisenbahnbrücke aus der Hochzeit des Tagebaus überquert haben, zu deren Füßen heute Ausflugslokale liegen und die die Stadtteile Kupferdreh und Heisingen über die Ruhr hinweg miteinander verbindet, hören sie das Zwitschern und Krächzen. Zu ihrer Linken liegt ein Naturschutzgebiet voller Wasservögel, die Heisinger Ruhraue.
Nicht zuletzt kommen die Langstreckenläufer an den Vereinsgeländen mehrerer Sportvereine vorbei. Denn Laufsport ist nicht die einzige Sportart, die am Baldeneysee so ausgiebig betrieben wird. Tennis- und Golfspieler, Ruderer, Segler, Kanu-Polospieler – sie alle haben hier am Wasser ihr Quartier aufgeschlagen. Nur die Schwimmer sind nicht dabei. Allerdings sind die Essener Ehrenamtlichen auch auf diesem Gebiet angagiert, um das offizielle Baden im See wieder möglich zu machen. In der IG Baden in der Ruhr habe sie sich zu diesem Zweck zusammengeschlossen.
Das Vereinsleben ist rege am See und es ist auch prägend für den Langstreckenlauf, der an jedem zweiten Sonntag im Oktober an seinem Ufer stattfindet. Der Marathon, bereits seit über 50 Jahren organisiert vom Verein Tusem, wird noch immer mit ehrenamtlichem Engagemant durchgeführt, auch wenn es mittlerweile einen großen Sponsor gibt. Seine schöne Streckenführung zwischen Wasser und Wald, die Industriedenkmäler zu beiden Seiten des Sees, aber auch die gemäßigten Temperaturen, die das Laufen im Frühherbst angenehm machen und das flache Geländeprofil machen den Essener Marathon zu einem allseits beliebten Lauf. Viele Zuschauer strömen dann aus der Stadt ins Grüne, um die Sportler anzufeuern. Auch in diesem Herbst, wenn am Sonntag, den 11. Oktober um 10 Uhr morgens der Startschuss ertönt, dürfte das wieder so sein. Zwei Stunden später fiebert dann das Publikum unterhalb der Villa Hügel, in der früher die Industriebarone herrschten, bereits dem Zieleinlauf entgegen. In unmittelbarer Nähe schaut ein treppenförmiges Gebäude dem Geschehen zu, der Regattaturm. Einige der vielen Uhren auf seinem Dach gehen rückwärts und verweisen zurück nach 1963, wo Bruno Nießer gerade die Ziellinie überschreitet. Hier wo die Zeit für jeden in seinem eigenen Tempo vergeht, mal erholend langsam, mal sportlich schnell, hält die Stoppuhr gleich die Zeit des neuen Siegers fest.