Weshalb ein Fluss keine Grenze ist

Foto: Rania Lahdo
Foto: Rania Lahdo

Wer an einem Flussufer steht und auf die andere Seite möchte, begreift schnell, wieso Flüsse etwas Trennendes haben. Das natürliche Hindernis versperrt den Weg. Ohne Brücke oder Fähre wird es schwierig, hinüberzukommen. Kein Wunder also, dass Flüsse häufig als Grenze dienen.

In der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, dass ein Fluss die Grenze zwischen zwei Ländern markierte und noch heute ist das nicht selten der Fall. Deutschland wird etwa im Südwesten vom Rhein und im Osten von der Oder und der Neiße zu seinen Nachbarländern hin begrenzt. Auch die Ruhr trennte bereits im 12. Jahrhundert die Herrschaftsgebiete des Erzbistums Köln und der Grafschaft Mark voneinander, wovon Burgen und Befestigungsanlagen am Fluss noch heute zeugen. Gegenwärtig bildet der Fluss die nördliche Grenze für den Märkischen Kreis im Sauerland und nicht nur die Grenzen von Landkreisen, sondern auch die von Stadtteilen folgen dem Ruhrverlauf, wie man im Süden von Essen sehen kann.

An Flüssen scheiden sich neben Verwaltungsgebieten aber auch Kultur- und Sprachräume. Der Grenzfluss Oder trennt beispielsweise den deutschen vom polnischen Sprachraum. Auch innerhalb von Ländern kann man diese kulturelle Art der Raumteilung ablesen. Die im Münsterland entspringende Issel etwa bildet die Grenze zwischen der niedersächsischen und der niederfränkischen Mundart. Eine andere Grenze überquert sie dagegen – die in die Niederlande, wo sie ihren Namen in Ijssel nur leicht wandelt. Hier deutet sich an, dass die grenzbildende Funktion von Flüssen nur die eine Seite der Medaille ist.

Denn die Fließgewässer stellen auch eine Verbindung zwischen Kulturen und Völkern dar. Das gilt etwa für ihre Funktion als Reise- und Transportweg, auf dem man ins Nachbarland gelangen kann. Auf der Donau zum Beispiel gelangt man vom deutschen Ulm aus über Wien, Budapest und Belgrad bis ans Schwarze Meer. An dem europäischen Fluss leben Menschen vieler verschiedener Sprachgebiete, Religionszugehörigkeiten und Herkunft und kommen über ihn miteinander in Kontakt. Der Strom mit seiner wechselvollen Geschichte war inoffizieller Namensgeber eines Vielvölkerstaats, der „Donaumonarchie“ und auch Schauplatz von Krieg und Versöhnung zwischen Nachbarn. Darin offenbart er sowohl die trennenden als auch die verbindenden Aspekte eines Flusses. Auch die Oder, die erst mit der deutschen Wiedervereinigung von der Bundesrepublik abschließend als Grenze anerkannt wurde, entwickelt sich inzwischen durch vielfältige Arten grenzüberschreitender Annäherungen und Kooperationen vom Grenzfluss zur Verbindung zwischen Nachbarländern.

Flüsse trennen zwar Räume, aber sie schaffen sie auch erst. Ausdrücke wie „Rheinland“ oder „Ruhrgebiet“ verweisen darauf. Dort ergibt sich ein zusammenhängender Kulturraum erst dadurch, dass die Menschen einer Region am selben Fluss leben – oder dass sie diese Tatsache in den Mittelpunkt stellen. Ein natürliches Hindernis kann ein Fluss also sein, eine „natürliche Grenze“ ist er dagegen nicht. Vielmehr hängt es von den Menschen an seinen Ufern ab, wie sie ihn wahrnehmen und nutzen.

Schreibe einen Kommentar